Psychotraumatologie

Die Psychotraumatologie befasst sich mit der wissenschaftlichen Erforschung der Bedingungen und der Folgen von Gewalt an Menschen. Sie ist die Grundlage der Traumazentrierten Therapie, Beratung und Pädagogik.

“Schreckliche” lebensgeschichtlichen Ereignissen und/oder “schreckliche” Lebensverhältnisse können seelisch und auch körperlich krank machen. Das wissen wir zwar aus den literarischen Werken der großen Dichter seit Langem, in Medizin, Psychologie und Pädagogik, vor allem aber in der Psychopathologie und Psychiatrie sind diese Tatsachen jedoch lange Zeit nicht berücksichtigt worden:

  • Noch nach dem 2. Weltkrieg waren psychiatrische Gutachter in Österreich und auch Deutschland der Meinung, eine “gesunder” Mensch müsse die Gräuel des Krieges seelisch folgenlos überstehen; mit dieser Argumentation wurden noch lange Zeit nach dem Ende des Krieges die Entschädigungsansprüche von Kriegsopfern zurückgewiesen.
  • Die Folgen “schrecklicher” Entwicklungsbedingungen in der Kindheit – die als “Entwicklungstraumastörung” inzwischen gut beforscht sind – werden bis heute in der Internationalen Klassifikation der psychischen Störungen (ICD-10) nicht erfasst.

Mit der raschen Entwicklung von Neurobiologie und Neurophysiologie in den letzten Jahrzehnten und den Fortschritten der Entwicklung der bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung können die Folgen psychischer Extrem- und Dauerbelastungen auch auf der naturwissenschaftlichen Ebene genauer erfasst werden.

Schocktrauma

Erlebnisse von körperlicher und/oder anhaltender seelischer Gewalt, verbunden mit der subjektiven Erfahrung von extremer Angst, hilflosem Ausgeliefert-Sein, Ohnmacht und Kontrollverlust, können die menschlichen Stresssysteme derart überfordern, dass bleibende Störungen der seelischen Selbstregulationsprozesse und damit der gesamten Homöostase des Systems “Mensch” resultieren:

Psychische Traumatisierungen (= Extremstresserfahrungen) können anhaltende vegetative Fehlfunktionen und Störungen in der Erlebnisverarbeitung verursachen und/oder durch nachhaltig negativ veränderte Sichtweisen auf sich selbst und die Welt zu seelischen und körperlichen Leidenszuständen von Krankheitswert führen.

Bindungstraumatisierung

Mitmenschlichkeit (das Eingebettet-Sein in mitmenschliche Bindungen) ist ein basaler Faktor für die gesunde seelische Entwicklung jedes Menschen. Das ist allgemein bekannt. Dass man aber an Bindungsbeziehungen auch erkranken kann, erscheint zwar spontan einleuchtend, hat jedoch in der Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie und Medizin im letzten Jahrhundert wenig bis keine Beachtung gefunden. In der aktuellen traumazentrierten Zusammenschau und Integration von Stressforschung, Bindungstheorie, Entwicklungspsychologie und Psychodynamik wird dem Rechnung getragen, dass Menschen in Abhängigkeitsbeziehungen sich an die Menschen “anpassen”, von denen ihr Leben abhängt. Traumatisierende zwischenmenschliche Einflüsse in Abhängigkeits-beziehungen – das sind alle Formen von Gewalt und Übergriffen – können zu Persönlichkeitsveränderungen, und in der Kindheit zu strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung führen. Vor diesem Verständnishintergrund ergeben sich neue Behandlungsansätze für traumaassoziierte Persönlichkeitsstörungen.

Seelische Traumatisierung kann also eine Fülle von Symptomen und Krankheitszuständen hervorrufen: nicht nur die quälenden, oft jahrelang wiederkehrenden intrusiven Symptome (Flashbacks) der posttraumatischen Belastungsstörung, sondern auch depressive Zustandsbilder, Angstsymptome, dissoziative Symptome, somatoforme Störungen und Suchterkrankungen. Länger anhaltende, vor allem zwischenmenschliche Gewalt in der Kindheit kann zu charakteristischen Beeinträchtigungen in der Entwicklung der gesamten Persönlichkeitsstruktur führen (Entwicklungstraumastörung).

Die Forschungsergebnisse aus der Psychotraumatologie führten demgemäß in den letzten Jahrzehnten zu neuen Behandlungsansätzen in der Therapie traumaassoziierter Störungen – mit außergewöhnlich guten Ergebnissen.

Traumatherapie, klinisch-psychologische Behandlung, Traumazentrierte Beratung und Pädagogik

Der fachgerechte Umgang mit Menschen, die an Traumafolgestörungen leiden, resultiert unmittelbar aus den Forschungsergebnissen der Psychotraumatologie: aus Neurobiologie, Neurophysiologie und Stressforschung, Epigenetik, Bindungstheorie, Systemtheorie, u.a.

  • In den traumafokussierten Therapiekonzepten in Psychotherapie und klinisch-psychologischer Behandlung werden hilfreiche Ansätze in Haltung, Therapieplanung und -Monitoring sowie Methodik und Behandlungstechniken schulenübergreifend entwickelt.
  • In der Traumapädagogik und traumazentrierten Beratung kann bereits präventiv wirksam werden, indem durch Erkennen von Risikofaktoren in Bezug auf seelische Belastungssituationen schon früh interveniert werden kann. In der Arbeit mit Betroffenen, die an Traumafolgestörungen leiden, sind es stabilisierende Interventionen, bindungsbasierte Beziehungsgestaltung, sowie die Ressourcenorientierung, welche als wesentlichen Bausteine eines traumafokussierten Ansatzes gelten.
  • In Notfallpsychologie und Krisendiensten können ein angemessenes bindungs-basiertes Beziehungsangebot sowie spezifische stabilisierende Interventionen unmittelbar in der Akutsituation nach Hochstresserfahrungen die Entwicklung einer Traumafolgestörung verhindern, bzw. kann zeitnah eine traumatherapeutische Behandlung initiiert werden.

Psychiatrie und Psychotherapie: Vor allem bei Menschen mit chronifizierten psychischen Erkrankungen kann eine traumafokussierte Betrachtungsweise mitunter neue, erfolgversprechende Behandlungsansätze aufzeigen. Wir wissen heute, dass viele Menschen mit Belastungen durch psychische Traumatisierungen oft über Jahre Fehldiagnosen erhielten und dann unter Umständen auch falsch behandelt wurden.

PsychotherapeutInnen und Behandlerinnen, die psychische Traumatisierungen behandeln wollen, benötigen neben einer fundierten Ausbildung in psychotherapeutischen Methoden als Grundlage und neben einem fundierten Fachwissen auch einen breiten Erfahrungshintergrund und Sicherheit im gesamten Spektrum von psychischen Störungen. Das beinhaltet auch die Sicherheit in der Diagnostik.

Das Feld, das die Psychotraumatologie für Theorie und Klinik der “Psychowissenschaften” eröffnet, ist umfangreich. Es erfordert und verdient eine ernsthafte Auseinandersetzung. Es rechtfertigt Diskussion, Überprüfung und gegebenenfalls auch Modifikation mancher bisheriger Krankheits- und Behandlungskonzepte aus neuer Perspektive.